Rezeption
«Diskussionen, Disco, Lesungen und Filmabende und natürlich die vielen Rockkonzerte - alles wird in Gratisarbeit organisiert und zu Preisen angeboten, die auch Schüler mit knapper Kasse, Werkstudenten und Leute, die aus dem sozialen Netz gefallen sind, bezahlen können. Manchmal gibt's Workshops, dann und wann irgendwelche Kurse.
Nicht von einer Administration geplant und durchgeführt, sondern von Einzelnen. Wer eine Idee hat, findet hier eine Möglichkeit, sie umzusetzen, und tut es, solange er Mumm und Lust hat und andere damit einverstanden sind. So läuft zurzeit ein Tangokurs, ein Nähatelier ist in Betrieb, eine Bierbrauerei, eine Milchbar, verschiedene
Werkstätten und ein Frauen-Malatelier. [&]
Eine Art ‹Basisdemokratie› möchte ich es nennen, aber auch der Begriff ‹Demokratie› wird wieder beiseite geschoben. Beschlüsse nach dem Mehrheitsprinzip, so präzisiert es einer, sind hier verpönt als ‹Vergewaltigung der Minderheit durch die Mehrheit›.
Diskussion bis zum Konsens nennt er als Ideal und schränkt gleich ein, dass ‹pragmatisch› auch immer wieder davon abgewichen werde, je nachdem, wie die Situation es erfordert. [&] Es zeigt sich im Gespräch dann wieder, dass jeglicher Theorie, genauso wie jeglicher Art von Hierarchie misstraut wird. Will sich hier einer als Guru oder gar Chefideologe profilieren, läuft er ins Leere. Dafür wird klar die Autorität von Einsatz und Können respektiert. Wer weiss, wie man eine Mauer baut oder ein Rockkonzert organisiert, der führt es durch und schart um sich all jene, die Lust haben, mitzuhelfen. [&] 'Zuerst', sagt Paul, 'wollten die einen bloss einen Raum für Konzerte.
Andere wollten auf eigene Faust ein soziales Netz für Aussenseiter schaffen. Wir richteten einen Fixerraum und eine Notschlafstelle für Frauen ein und übernahmen damit Aufgaben, die eigentlich von der öffentlichen Hand hätten erfüllt werden sollen.' Klar, dass das in Gratisarbeit niemals zu leisten war und alles andere gefährdete. Die
Akzente verschoben sich. Der Kulturbetriebweitete sich aus, das 'Wohlgroth' ist nur so weit Auffangnetz für Aussenseiter geblieben, als sie mitgetragen werden können und selber mittragen, [&] Rockkonzerte und Veranstaltungen aller Art sind geplant, 'bis zum Sankt-Nimmerleinstag'. Vernissagen der Fassadenkunst gab's, eine Photoausstellung, ein Photobuch soll bald erscheinen, und Manifestationen auf öffentlichen Plätzen wurden durchgeführt.
An Echo von draussen fehlte es nicht: Ensemblemitglieder des Schauspielhauses flochten am Kulturumzug ein Plädoyer fürs 'Wohlgroth' in den Text von Schillers 'Räubern' ein, und bekannte Künstler stellten Leihgaben in die Wohlgroth-Strassengalerie. [&] Und ein staatlich subventioniertes Kulturinstitut wie die Rote Fabrik soll das 'Wohlgroth' nicht werden. 'Denn siehst du', sagt Paul, 'dort kostet heute ein Konzert wieder so viel, dass unsereins es sich nicht leisten kann. Und wenn man etwas machen will, braucht's so viel Papierkrieg, dass dir die Lust vorher vergeht.»
(Quelle: Hedi Wyss, "Das 'Wohlgroth' von innen betrachtet", in: NZZ, 9./10.10.1993, S.77-79 [ ZH_Zürich_1993_Wohlgroth_ReportageNZZ_9./10.10.1993.pdf].
«Ehemalige Gaszählerfabrik besetzt und verwandelt in eine autonome Zone. Mit viel Einsatz von Kreativität und Menschenkraft entstanden da Infrastrukturen für allerlei kulturelle Tätigkeiten: Es gab ein Frauenatelier, eine Volksküche, einen Jazzkeller, eine Bibliothek, ein grösseres Konzertlokal, diverse Bars, Wohnungen wie Gesamtkunstwerke, Hängebrücken und Kletterwände, Gärten und Dach landschaften und eine Galerie mit einmaliger Fassadengestaltung und verrückten Ausstellungen, in welcher sich Künstlerinnen aus ganz Europa wohl fühlten.»Quelle: “Chronologie. Off-Space-Kunsträume”, in: Susanna Nüesch, Barbara Roth, Martin Senn (Hrsg.), Raum für Räume. Interlokal – eine Ausstellung in der Shedhalle Zürich, Zürich: Shedhalle, 2005, S. 137
«Innert weniger Monate etablierte sich das «Wohlgroth» als kulturelle Institution. So fanden sich Anfang der 1990er Jahre auch im «Zürcher Wochenkalender», der Veranstaltungsseite der NZZ, immer wieder Hinweise auf Konzerte und Ausstellungen im besetzten Areal.»
(Quelle:Alice Kohli, „Zwischen Chaos und Ordnung. Kennen Sie Zürich?“, in: NZZ, 27.01.2015 (online: www.nzz.ch/zuerich/stadt-zuerich/zwischen-chaos..., Zugriff vom 25.05.2016)
«In der Musikszene war es ein Geheimtip, es kamen Bands aus Übersee, ganz Europa, der Schweiz, viele Züri Bands hatten dort hier ihren ersten Auftritt.»Quelle: Veronika Grob, o.A., in: Wohlgroth, Zürich: Edition Patrick Frey, 1994, S. 7
«Vollversammlungen waren teilweise schwer durchzuführen, man wenig erpicht war auf stundenlange Sitzungen: Es waren MacherInnen: das meiste passierte ganz spontan, nach Lust und Laune. Aber auch in der Wohlgroth war oft überhaupt nichts los. DIe Leute hängten herum, kamen höchstens hervor, um sich zu betrinken, und es machte sogar Mühe, jemanden für die Arbeit an der bar zu finden. Gerade das, was einfach gemacht werden musste, wie Barbetrieb und Café, wurde zum Alltag und hing häufig an zu wenigen Leuten. Diese hatten bald die Nase voll und fragten sich, wieso sie diese Gratisarbeit leisteten. Vor allem am Wochenende kamen immer Hunderte von KonsumentInnen, die selber nie anpackten.»Quelle: Veronika Grob, o.A., in: Wohlgroth, Zürich: Edition Patrick Frey, 1994, S. 7
«Genauso wichtig waren für Esther Eppstein jedoch die wechselnden Treffpunkte der illegal betriebenen Bars und das Leben im Wohlgroth-Areal. Zürich war damals ‹Zureich›, wie die Besetzer des Areals im SBB-Schriftzug an die Fassade gemalt hatten, die Situation in der Drogenszene 1991 katastrophal. Die Antwort im Wohlgroth darauf war praktisch – und phantasievoll: Es gab ein 'Fixerstübli', Konzerte, Partys, Kinoabende, eine Bibliothek. 1993 kam das gewaltsame Ende, doch das Umdenken in der Drogen- und der Kulturpolitik war nicht mehr zu stoppen.»Quelle: Eppstein in Nadine Olonetzky, 'Sista Esta' und die Kunst oder die ewige Aufregung, 2015, www.kontrast.ch/3_5/files/material/olonetzky/pd..., Zugriff: 16.08.2016
«Es gibt, das war auch mein Einwand, als ich zuerst von all den Plänen für ein Kultur- und Begegnungszentrum hörte, doch genug Freizeitzentren; einige mit einem durchaus sehenswerten Kulturangebot, mit Kursen und Pingpongtisch, mit Kaffeestube und Theaterlokal. Und sie werden sogar unterstützt von der
öffentlichen Hand. Aber gerade da liegt der Hase im Pfeffer. Vororganisiert ist das alles, betreut, fixfertig geliefert. Das wollten sie nicht, die Leute vom Wohlgroth, nicht ein Angebot wollten sie, sondern eine Herausforderung. Nicht konsumieren wollten sie, sondern sich beweisen, dass sie es schaffen. Ohne das Geld, die Gnade, aber auch die Einmischung der Öffentlichkeit. Selbst eine Struktur aufbauen, selbst die Entscheidungsmechanismen bestimmen, selbst aus dem Nichts etwas erarbeiten, was nachher funktioniert. Unbeeinflusst das gleichberechtigte Zusammenleben
üben.»Quelle: Leserbrief zitiert in Thomas Stahel, «Wo-Wo-Wohnige. Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1965», Diss, Uni Zürich, 2006. [ZH_Zürich_2006_Wohraum_Diss_Stahel.pdf]
«Fabrikareal stand schon seit 1989 leer, die Wolgroth zog in die Agglomeration und den Arbeitern wurden die Wohnungen gekündigt, die sie an der Josef- und Klingenstrasse hatten. Gebäude der Bührle Immobilien im Baurecht übergeben, der Wohn- und Gebäudekomplex plante. IG Kreis 5 wehrte sich gegen die Überbauung. Abbruch wurde anfangs auch von der Stadt verhindert, aufbauend auf Wohnerhaltungsgesetz. Gewisse Rekursverfahren dauerten bis Sommer 1993 an. Um die Drogenproblematik in den Griff zu bekommen wurde anfangs gar ein FixerInnenraum auf dem Gelände eingerichtet. Ein Wohnhaus wurde in ein experimentelle Frauennotschlafstelle umgewandelt. Nach der Platzspitzräumung gab es einen Grossandrang auf das Gelände, die Besetzer wollten den Drogenkonsum nicht tolerieren und etablierten Tag- und Nachtwachen. Frauennotstelle verwandelte sich mit der Zeit in ein Frauenhaus, daneben gab es das Frauenatelier für Veranstaltungen und die kreative Nutzung. Im ehemaligen Fixieraum wurde ein Infocafé eingerichtet mit Zeitschriften. Später war dort die Videogruppe ‹Red Fox Underground› (ab Winter 92).
Ab Herbst 91 gab es eine Disko, deren Einnahmen in das ganze Areal einflossen. Dreimal wöchentlich gab es Konzerte. Jazzkeller, mit TangoBar. Skater im Bewegungsraum, Kampfsport im stillen Bewegungsraum, Billardtisch, Töggelikasten, Milchbar, Flohmarkt, Übungsräume, Werkstätten, Veloflickräume, Bierbrauerei, Volkxküche, Café (Treffpunkt im Winter). In den zwei Wohnhäusern wohnten ca. 30 Leute. Im Oktober 92 Haus der Josefstrasse, das vom Notwohnungsamt benutzt, aber in der Zwischenzeit wieder fallen gelassen wurde, besetzt und mit einer Brücke ins andere Areal verbunden. Im Frühsommer 93 wurden alle restlichen Häuser besetzt, es wohnten über 100 Leute auf dem Areal. Bei Abschluss des Rechtsverfahren im Sommer 93 wurde die Räumung absehbar, was zu einer Revitalisierung führte: Fassaden wurden neu gestaltet, Photogalerie eröffnet und Mediengruppe wiedergegründet. Druck sollte aufgebaut werden auf die Öffentlichkeit. Grössere Medienberichterstattung, sehr wohlwollend. Besetzung sollte in offiziellen Kulturinstitute aufgenommen werden. Demos und Aktionen in der Stadt durchgeführt. Angebot zum Umzug nach Seebach wurde abgelehnt, da es dort keine Wohnräume gab und der Bezug zum Ouartier nicht mehr gegeben war.»Quelle: Thomas Stahel, «Wo-Wo-Wohnige. Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1965», Diss, Uni Zürich, 2006, S. 397-398